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Der gelebte Raum

Text von Franz Xaver Baier

Der existentielle Raum: „Ich benutze sehr gern Parfum“

Wir sind heute immer noch gewohnt, von „dem Raum“ zu sprechen und dann in einer Weise, als wäre er ein Behältnis und der Mensch ein Körperding darin. Dass Raum nicht unabhängig ist von Dingen und Orten ist einigermaßen bekannt. Albert Einstein hatte z. B. gesagt, dass dem „Raum-Begriff“ der „Ort-Begriff“ vorausgeht und dass also Raum eine Art „Ordnung körperlicher Objekte sei und nichts als eine Art Ordnung körperlicher Objekte“.  Er ließ dabei allerdings unbeantwortet wie diese Orte und diese Ordnung zustande kommen.

Eine Antwort hierauf haben die phänomenologischen und sprach-philosophischen Untersuchungen z. B. von Heidegger, Sartre und Wittgenstein gegeben. Sie füllen das Raumproblem mit Leben und zeigen, dass zu Raum so etwas wie „Welt“, „Existenz“, „Sinnzusammenhang“, „Lebensentwürfe“ und Verhaltensweisen gehören und dass sich erst dadurch Raum ergibt.  Es gibt keine reinen Beziehungen, sondern wir sind mittendrin in den Beziehungen, weil wir, wie Sartre sagt, die Beziehungen selbst sind.  Distanz und Nähe z. B. sind qualitative Größen. Wir sind die Wesen, die durch die Möglichkeit des „Ent-fernens“ so etwas wie Distanz oder Nähe zwischen alles bringen können. Deshalb ist Raum „weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum“. Vielmehr ist der Raum „in der Welt“ als einer von uns ausgearbeiteten, gelebten und zu „besorgenden“ Sinnkonstruktion.  Raum entsteht erst durch existentielle Beziehungen. Durch diese entsteht Bedeutung und Zuordnung von Dingen, Orten, Grenzen und Qualitäten. Und Da-sein bedeutet „da auf diesem Stuhl“, „da an diesem Tisch“, „da auf dem Gipfel dieses Berges, mit diesen Dimensionen, dieser Orientierung usw.“ Von diesem gelebten „da-sein“ aus gibt es „die Welt“.  Von da aus liegt dem Kölner Künstler innerhalb seiner Räumlichkeit New York näher als Wuppertal und die Kunstwerke näher als sein eigener Körper.

Raum ist ein Existential des Menschen. Wir kommen nicht irgendwie in Raum und Zeit vor, sondern wir sind selbst räumlich und zeitlich. Wir existieren räumlich wie zeitlich. Das ist eine fundamentale, unsere gesamte Existenz betreffende Tatsache. Wir müssen also Sein und Zeit und Raum durch unsere Existenz leisten. Wir müssen uns zeitigen wie räumlichen. Das ist der radikale Sinn von Wirklichkeit. Dabei sind Mensch und Raum unauflösbar miteinander verknüpft. Raum ist kein Gegenüber für den Menschen. Er ist weder ein äußerer Gegenstand noch ein inneres Erlebnis. Es gibt nicht die Menschen und außerdem Raum. Bernhard Waldenfels sagt: „Raum ist niemals bloß formaler Bestandteil eines praktischen Projekts oder eines theoretischen Objekts, sondern er gehört zu dem Fundus der Befindlichkeit, aus dem wir ständig schöpfen“.

Es ist von daher folgerichtig, wenn man von einem allgemeinen Raum, Zeit und Sein, wie es uns die Wissenschaften immer noch vormachen wollen, absieht. Vielmehr sind Raum, Zeit und Sein auf konkrete Lebensweisen bezogen und nur aus ihnen begreifbar. Die Lebensweisen sind die Konfigurationsprogramme, die je bestimmte Wirklichkeiten erzeugen. Deshalb öffnen Kunst, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usf. je verschiedene Räume.

Man muss aber hier über Heidegger und Sartre hinausgehen, weil sie einerseits den Raum zu sehr an die Existenz des Menschen gebunden hatten und andererseits doch noch an einem irgendwie vorgegebenen Metahorizont festhielten. Wir können heute davon ausgehen, dass alles an der Wirklichkeit von Räumen beteiligt ist. Auch Tiere und Pflanzen, Landschaften, Farben, Düfte, Geschmack, Sprache, Sex und Geld haben räumliche Wirkungen. Und wir können davon ausgehen, dass das Zusammenwirken verschiedener Elemente unter bestimmten Voraussetzungen Zustände schafft, die etwas völlig Neues erzeugen. Und das Neue erzeugt zugleich seinen eigenen Horizont und seine eigene Wirklichkeit. Damit wird endlich die schon von Nietzsche und später der Phänomenologie geforderte Einsicht klar, dass alles in den „Sachen selbst“ steckt. Wir können sie entfalten und zu vorübergehenden Lebensräumen inszenieren.

Auch Andy Warhol dachte in Raumkategorien und er darf als ein großer Raumkenner bezeichnet werden. Ihm stellte sich das Problem in erster Linie durch die Frage, wie er möglichst viel Raum einnehmen konnte. Dabei entdeckte er, dass sich jedem Menschen verschiedene Möglichkeiten bieten, Raum einzunehmen – über Raum zu verfügen. „Ein besonders Schüchterner will nicht einmal den Raum einnehmen, den sein Körper tatsächlich braucht, während Leute, die sehr aus sich herausgehen, soviel Raum wie nur möglich einnehmen wollen.“ Da er sich selber auch als „schüchtern“ einstufte, aber trotzdem über mehr Raum verfügen wollte, als er hatte, sann er auf verschiedene Möglichkeiten. Vom Medium Fernsehen versprach er sich am meisten, weil da jedermann, „so klein er vielleicht ist, all den Raum, den man überhaupt nur wollen kann“ einnehmen kann. Und: „Ein anderer Weg, mehr Raum einzunehmen, führt über Parfum. Ich benutze sehr gern Parfum.“

Der wissenschaftliche, abstrakte Raum entsteht erst durch eine „Entweltlichung“ (Heidegger) und eine „Welt ohne Menschen“ (Sartre), wo das Leben ausgetrieben ist.

Der sprunghafte Raum: Geometrie des gelebten Raumes

Die Geometrie des gelebten Raumes ist eine bewegte Geometrie. Sie befindet sich in permanenter Umbildung und hat nur ambulante Größen. Wirklichkeit ist Prozessualität. Folgende Sätze und Stichwörter seien also immer mitgedacht: Zum gelebten Raum gehört eine „Chaos“ – Geometrie, die Transformationen, Übergänge, Verbindungen und Formprozesse sichtbar macht.  Trennungen, Umrisse, Distanzen sind positiv und als Nuancen wirksam. Die Dinge der Natur beispielsweise haben nicht abtrennende Umrisse wie die künstlichen Körper, sondern sie haben Übergänge, die aufgefaltet und räumlich auseinander gezogen werden können. Zwischenräume sind konstitutiv. Geraden sind Kurven. Annäherungen und Entfernungen sind wichtiger als starre Positionen und Definitionen.

Im Unterschied zur sachbezogenen euklidischen Geometrie entspricht dem gelebten Raum eine fraktale Geometrie.  Unser Lebensraum besteht aus fraktalen, das heißt splitterhaften Räumen mit je eigenen und unterschiedlichen Strukturen, Maßsystemen und Werteordnungen. Vom Sport, wo Hundertstel zählen, bis zu kosmischen Erlebnissen, wo man sein ganzes Leben überblickt. Unabsehbar viele Ordnungen sind möglich. Schon Pascal hat für verschiedene Lebensbereiche verschiedene Ordnungen gesehen und hat eine Logik des Fleisches, der Weisheit, des Herzens, der Genies nahegelegt. Die unterschiedlichen Ordnungen lassen Wirklichkeit insgesamt jeweils anders begegnen.

Akute Geometrie, die erst aus konkreten Interaktionen Strukturen freisetzt, damit auch erst in der Begegnung Innen- und Außenpositionen festlegt und Distanzen und Nähen situiert. Ohne Koordinierungssystem von außen. Die dadurch entstehende Dynamik und Eigengesetzlichkeit erzeugt je eigenen Raum. Deshalb kann Weite durch Einschränkung entstehen. Zeit ist Dynamik. Gelebter Raum ist aperspektivisch. Räume verbergen sich in Nuancen und Unscheinbarem.

Der situative Raum: „Die Wirklichkeit” gibt es nur als Lebenssituation

Wie die Raumphänomenologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts – unter dem Einfluss des Existentialismus seit Nietzsche und Kierkegaard – gezeigt hat, kann Raum nicht ohne unsere Existenz erfasst werden. Raum ist entscheidend von unserer Situation abhängig.  Radikal gesehen gibt es Wirklichkeit nur als Lebenssituationen. In Wirklichkeit sind wir immer in einer bestimmten Situation. Wenn wir an einer Küste entlang laufen, interessiert es uns wenig wie lang die Küste ist und dass die Länge viel besser mit der Fraktalen Geometrie zu erfassen ist als mit der Euklidischen. Wir sind eher darauf eingestimmt, endlich mal tief durchzuatmen, auszuschwingen und über unseren derzeitigen Lebensabschnitt nachzudenken. Außerdem schmerzt das rechte Bein, weil es sich vom langen Flug verkrampft hat und die Weite des Strandes stellt sich noch nicht ein, weil die Gedanken immer noch an der Stewardess hängen. Also treten wir auf einen Seeigel und unter dem Motto „Und ich in Lohe“  werden wir von höllischem Brennen eingeschlossen. Die Küste fällt dadurch völlig weg, unsere Welt wird aufgelöst und in der nun wirklich wahren Erkenntnis „Schmerz macht ortlos“  denken wir ans Jüngste Gericht oder sonstige Infernos, in denen vielleicht unser Handy als Retter und Lichtfaden erscheint.

Raum erscheint uns nie als rohes Datum an sich, sondern immer schon erschlossen oder vorerschlossen durch einen Zweck, eine bestimmte Zugehensweise, ein Motiv, das wir gewählt haben. Deshalb erscheint Raum auf uns zugeschnitten und ist nicht von uns zu trennen. Wir können diesen Vorgang mit Sartre eine Situation nennen und sagen: „Situation und Motivation sind eins“.  Das heißt, wenn wir an eine Küste fahren, um dort Urlaub zu machen, stellen wir damit eine Urlaubsituation her, in die wir die Küste integrieren und worin sie zu erscheinen hat. Wir haben einen transzendenten Raum konstruiert und bringen den mit. Das heißt dann: das schöne Meer ist für uns zum Schwimmen und Tauchen da, der schöne Strand zum Gehen, Grillen und Bräunen und die netten und zuvorkommenden Einheimischen zum Bedienen. Wenn es dann nicht so ist, reisen wir ab oder dringen auf Wertminderung. Völlig andere Situationen, aber mit derselben Küste, entstehen durch die Motive „Militär“, „Filmkulisse“, oder „Tankerunglück“.

Wie Sartre zeigen wollte, können immer wieder Fälle eintreten, die unterschiedliche Menschen in eine gemeinsame Situation aussetzt und sie dadurch plötzlich einander anpasst. Angesichts einer Kriegsgefahr, eines Erdbebens oder einer anderen Notsituation werden die persönlichen Nöte lächerlich. Die Menschen werden zu einer Notgemeinschaft zusammengefasst und befinden sich in einem neuen Raum. Natürlich bilden auch Fußball, Feste, Vernissagen oder das Einwohnermeldeamt Situationen, die uns mit anderen Menschen zusammenfassen und spezifische Raum-, Zeit- und Verhaltensweisen vorgeben. Die Situationen können dabei mehr oder weniger zwingend bis freilassend wirken.

Als Situation ist Raum am empfindlichsten. In ihr schießt alles zusammen. Sie ist unmittelbar. Sie stellt und fordert heraus und zeigt was in uns steckt. Sie legt ein bestimmtes Dasein aus und unsere Konstitution zeigt, ob wir ihr gewachsen sind oder nicht. Extreme Situationen, absurde und scheinbar aussichtslose Situationen sind dennoch nie endgültig und nie ohne uns. Sie sind immateriell und in sich offen. Deshalb konnte der Einsturz des Kaufhauses in Seoul die 19-jährige Park Sung Hyon zwar unter tonnenschweren Trümmern sechzehn Tage einschließen, ihre Situation war dennoch nicht aussichtslos, weil ihr der eigene Lebenswille Hoffnung gab und ein, von Zeit zu Zeit im Traum erscheinender, Mönch einen Apfel reichte.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Der situative Raum stellt denjenigen Zustand des Raumes dar, der eine vorgegebene, allgemeine Wirklichkeit auf unsere spezielle Lage hin vermittelt. Situationen sind weder nur objektiv noch nur subjektiv. Sie sind vielmehr das „raffinierte Gleichgewicht zwischen den kreativen Potenzen eines Lebewesens und den fördernden und hindernden Gegebenheiten der Umgebung“. Deshalb ist entscheidend „wie gut oder schlecht beide zueinander passen und sich zu einem raumzeitlichen Gebilde ergänzen, zu einer belebten Bühne, die Lebens- und Überlebenschancen bietet.“  Der situative Raum ist also der empfindlichere, persönliche und aktuale Zustand durch den uns Wirklichkeit überhaupt erschlossen ist und uns sinnvoll angehen kann. Wir können unsere persönliche Situation dabei mit den allgemeineren und größeren Räumen so in Beziehung setzen, dass sie zu einem universalen Ort wird. Raum entsteht nur, wenn wir Situationen bilden. Das geschieht, indem wir das Vorgegebene initiativ in den Griff kriegen, Struktur hinein bekommen, Motivationsketten herstellen und so eine Sinnstruktur erzeugen, die unser eigenes Leben wird.

Der sinnvolle Raum: „Gott fickt jede Lahmgöre“

Die Philosophie brachte im 20. Jahrhundert einen einschneidenden Wandel im abendländischen Denken, indem sie ein neues Daseinsmodell entwarf – eine neue Art der Wirklichkeit. Die Vorstellungen einer Wirklichkeit an sich, sei es die einer Schöpfung oder eines evolutiven Prozesses werden revolutioniert durch die Erkenntnis, dass diese Weltbilder geschichtlich sind und eng mit der Existenz des Menschen verknüpft sind. Deshalb hat Heidegger den Begriff „Seinsgeschichte” geprägt und steht bei Sartre die Existenz höher als das Sein. Deshalb werden übergeordnete Sinnideologien abgelöst durch Sinnpluralitäten, Kontexte, „Sprachspiele“ (Wittgenstein), „Bewandtnisganzheiten“ und „Welten“ (Heidegger), „Entwürfe“ (Sartre), „Strukturen“ (Rombach), Lebensformen, „Rhizome“ (Deleuze/Guattari) und begrenzte Szenarien, die Wirklichkeit erzeugen und die man mitspielen muss, um sie zu verstehen. Deshalb gehören auch Vernunft, Ethik und alle hehren scheinbar absoluthumanitären Werte in „Sprachspiele“, Welten und konkrete Situationen. Dezentrierung, Streuung, Beziehungen und Bewegtheit sind wichtiger als Fixierung und Beharrung auf einem vermeintlichen An-sich-sein. Es ist ein Übergang von der Vorstellung eines verkörperungsfreien, an sich seienden Sinns zur Anerkennung von Sinn als Effekt von Verknüpfungen. Wichtiger als das Objekt sind die Beziehungen in denen es steht. Das führt zu eminenter Aufwertung der Materialität, der konkreten gelebten Existenz, der eigenen Initiative und Lebenskunst, des Alltags und der Erzeugung von Sinnstrukturen.

Auf den Raum bezogen bedeutet das: So wie Sein durch Existenz produziert wird, so werden Lebensräume durch Lebenszusammenhänge produziert. Raum gibt es also nicht a priori, nicht an sich und nicht als Kategorien, vielmehr als Sinnkonstruktion. Unser Dasein, unsere Identität und unser Lebensraum werden von Sinnkonstruktionen getragen. Sinnkonstruktionen machen Bedeutungen und Wesen. Nicht durch ein allgemeines Sein – Natur, Gott oder sonst eine absolute Größe – wird unser Leben getragen, sondern durch Sinn. Sinn ist die Wurzel sowohl für Sein, Natur, Gott und die Welt und zwar so radikal, dass selbst scheinbar feste Materie sich durch Sinn erst konstituiert. Dasein ist nur als sinnvolles möglich. Die Sinnkonstruktion ist auch das was von unserem Leben übrig bleibt. Als Werk, Kinder oder sonst was. Deshalb können die Nachfahren des ermordeten israelischen „Friedenspolitikers“ Itzhak Rabin „sein Werk fortsetzen“ und „in seinem Sinne“ weiterarbeiten. Der Sinn springt von der Person ab, hebt sich heraus, das heißt es ist eine Dynamik im Spiel, die aufsteigt und uns trägt. Andererseits macht es wieder Mut und gibt Auftrieb, wenn wir Sinnzusammenhänge hochhalten. Das heißt also: Sinnzusammenhänge tragen und werden getragen. Uns wird schwindlig, wenn wir das Vertrauen in den Zusammenhang verlieren und wir brechen zusammen und erleiden einen Identitätsverlust, wenn eine Sinnkonstruktion zusammenbricht. Sie ist ja zugleich unser Bewegungsraum und Spielraum.

Der sinnvolle Raum ist immer in Totalpräsenz wirksam. Deshalb sind Lebenszusammenhänge wie Algenkolonien in einem unbekannten Ozean: Pelagisches Dasein. Deshalb kann man einen Sinn nur begreifen, wenn man in ihn „wie in eine Algenkolonie“ greift. „Egal wo man sie ergreift, man wird sie immer als Ganzes herausziehen müssen“.  Raum öffnet sich nur durch sinnvolle Lebenszusammenhänge und diese sind nur „inner-weltlich“ erfahrbar. Lebensräume sind Binnenräume und öffnen sich erst über einen bestimmten Vollzugssinn.

Wir müssen also Sinn produzieren. Dabei arbeiten wir ständig vorgegebene Wirklichkeit auf und verwandeln ihre Außenverfassung in eine Binnenverfassung. Auch wenn wir uns auf bereits bestehende Sinnstrukturen einlassen. Wir können uns dazu einer Reihe von Möglichkeiten bedienen und Welten durch Transformationen in neue Welten verwandeln.  Es kann schon genügen, Nuancen wahrzunehmen und auszuziehen, um komplette Neustrukturierungen zu erwirken. Wie Andy Warhol schon gesagt hat: „Die Graffiti-Sprayer, die nachts ganze U-Bahn-Züge besprühen, haben begriffen, wie man den Stadt-Raum im Recyclingverfahren zurückerobert. Mitten in der Nacht gehen sie in die U-Bahn-Stationen, wenn die Züge leer sind, und dann veranstalten sie ihren Tanz und Gesang in der U-Bahn. Nachts sind die U-Bahnen wie Paläste, wenn du den ganzen Raum für dich allein hast.“  Oder es geschieht mit extremen Rambo-Methoden, die verhärtete und verkrustete Strukturen aufbrechen, um sie neu zu bearbeiten wie im Falle López bei VW.

Sartre hat zwar Recht, dass der Mensch als transzendierendes Wesen vorgegebene Situationen durch einen „Lebensentwurf“, eine Motivation erst strukturiert und damit Bedeutung und Sinnzusammenhang herstellt. Aber solange der Entwurf ein Überwurf ist, bleibt er draußen und die Situation öffnet sich nicht. Der Entwurf muss sich verbinden lassen mit dem vorgegebenen Raum; das hat Sartre zwar auch gesehen, aber: Sartre selbst ist bei dem Versuch, einen „Entwurf“ zu leben, gescheitert. Als er in Venedig Urlaub machen und das Wasser als Lebenselement beschreiben wollte, musste er, frustriert, frühzeitig abreisen, weil er es nicht zu seinem Element machen konnte. Erst im politischen Milieu von Paris war er wieder in seinem Element. Was Sartre übersehen hatte, war, dass der Lebensentwurf, die eigenen Vorstellungen gerade zusammenbrechen müssen. Man muss geradezu vernichtet werden, um jenen kritisch-offenen Zustand zu erreichen, wo wir mit der Wirklichkeit einbrechen und ungeschieden hochpotenziert sind und wo die Chancen, Möglichkeiten und feinen Verzweigungen im Lebensraum zu sehen und wahrzunehmen sind. Dabei geschieht etwas, das bis dato unbekannt war. Wir entdecken, dass Sinnkonstruktionen ein Eigenleben führen, dass, wo immer offene Prozesse zustande kommen, diese als Wirklichkeitsgenerierung fungieren. Deshalb kann gesagt werden: „die Überraschung ist, daß viele der in diesem Jahrhundert diskutierten Entdeckungen etwas mit Phasensprüngen, mit Emergenz, mit Kooperation zu tun haben, die nur zu verstehen sind, wenn man berücksichtigt, dass hier vieles gleichzeitig geschehen muss. Aber was ist das Prinzip dieses Geschehens, wenn es Kausalität nicht sein kann? Irgendetwas befähigt diese Phänomene zur Selbstorganisation, und das kann nur eine Art Eigensinn sein, der den Beobachter vor völlig neuartige Herausforderungen stellt.“  Dieser Eigensinn ist das kreative Potential, durch das Wirklichkeit erzeugt wird und der steht höher als jede Gottheit. Man sollte sich das Sinngeschehen nicht zu blumig und nicht zu intellektuell vorstellen, wie die Postmoderne das noch getan hat. Es ist eher so, wie eine Anekdote über den berühmten Historiker Fernand Braudel berichtet: Auf einem großen Kongress 1986 befragt, warum bei ihm die Einheit Frankreichs nicht mit Jeanne d’Arc, sondern mit dem Eisenbahnnetz beginne, antwortete er, dass er vor diesem Ereignis keine Einheit erkennen könne. Vielmehr erst durch die Züge, die die Raumdistanzen Frankreichs in schnellem Tempo verkürzten und damit eine Straffung des Raumes bewirkte.  

Ein Beispiel von heute: Wie die ZEIT berichtet, haben „800 000 junge Türken. Umgeben von sozialer Kälte“ jetzt in Köln ihre Heimat gefunden: in der eigenen Popmusik. Die Jugendlichen, die in der Türkei nicht mehr und in Deutschland noch nicht zuhause sind, überwinden diese „Identitätslücke“ indem sie sich eine neue Identität erzeugen. Mit „HipHop, House und Pop”, einer Mischung aus „Türkei-Nostalgie und Popmodernität“ erzeugt die Band cartel, die sich mehr als ein Projekt versteht als nur eine Musikgruppe, ein neues Gemeinschaftsgefühl, das sowohl in der Türkei als in Deutschland ankommt. Das ethnische Revival ist deshalb keine Rückbesinnung auf alte Werte, sondern eine Fusion zweier Galaxien. Heraus gekommen ist das Universum der Kanaken, wie sie das übliche Schimpfwort auf sich selbst anwenden und damit jeder Beleidigung zuvorkommen. In ihrer eigenen Kunstsprache steckt auch das Motto für die zukünftige Raumtheorie. „Wer weiterkommen will, muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen“. Das heißt: „Gott fickt jede Lahmgöre“.  

Der wahrgenommene Raum: Raumwahrnehmung ist Wahrnehmung mit der ganzen Existenz

Es gibt für die Bewegtheit von Raum noch keine adäquate Wahrnehmungstheorie. Die Aussagen von Schriftstellern und Phänomenologen werden immer noch in den Bereich des bloß Subjektiven, Psychischen abgeschoben, weil Gefühle, Empfindungen missverstanden werden als etwas im Subjekt befindliches und weil die Subjekt-Objekt Konfiguration als alleiniger Maßstab genommen wird.

Wir sind gewohnt, Wahrnehmung als einen Akt zu begreifen, durch den etwas von „draußen“ zu uns nach innen kommt, in uns abgebildet und gespeichert wird. Dabei setzen wir voraus, dass das Draußen, die Außenwelt auch ohne uns so ist wie sie uns erscheint. Zugleich übersehen wir, dass dieser Zustand bereits aus einer Verhaltensweise entstanden ist, die nicht ohne uns geschehen ist. Wir lassen in dieser Verhaltensweise eine bestimmte Umgebung nicht zu, so dass sie als bloße „Umwelt“ und „draußen“ erscheint. Das ist scheinbar objektiv. Dadurch wird aber ein lebendiger Zusammenhang zu einer toten Umgebung. Umgekehrt wird eine scheinbar leblose Fläche zu einem lebendigen Zusammenhang, wenn wir sie durch eine bestimmte Hinsicht aufschließen. Dann gilt aber: Unsere gesamte räumliche Verfassung verändert sich. Durch das Aufschließen öffnet sich die Umgebung zu etwas, worin wir plötzlich stehen. Unser Raum erweitert sich. Das ist der Sinn des Satzes von Maturana: „Wir sehen mit unseren Beinen.“  Wahrnehmen wird somit zu einem existentiellen Drin-sein. Ver-stehen wird zu einem Drin-stehen in einem Zusammenhang. An-sicht wird zu Ein-sicht. Und in der Ein-sicht öffnen sich neue Räume und Binnensichten. Man erfährt das beim Betrachten eines Bildes, wo sich z. B. die zunächst plakative Sicht in einen räumlichen Komplex verwandelt, wenn es sich uns erschließt. Dabei war das Bild zu keiner Zeit bloßes Objekt, das dann irgendwie animiert wurde, sondern es war schon immer Teil eines Prozesses, der durch unsere eigene Leblosigkeit verdeckt war.

Wir sind nicht unbeteiligt an der Wahrnehmung. Die Umgebung verändert sich, wenn wir ein anderes Verhalten einnehmen: „Es ist ganz erstaunlich, wie sehr sich das Weltbild, und daher auch die Vorstellung über Wahrnehmung, verändert, wenn man die Guckkastenphilosophie des unbeteiligten Beschreibers mit der Einsicht des mitfühlenden Beteiligten vertauscht. Ja sogar die logische (semantische) Struktur dieser beiden Weltbilder sind bezüglich Fragestellung, Sprachgebrauch, und was wir ‚Erklärung‘ nennen, fundamental verschieden“.  Weil Wahrnehmung nie ohne uns ist, gilt der Satz: „Die Erfahrung von jedem Ding ‚da draußen‘ wird auf eine spezifische Weise durch die menschliche Struktur konfiguriert, welche ‚das Ding‘, das in der Beschreibung entsteht, erst möglich macht. [...] Diese Zirkularität, diese Verkettung von Handlung und Erfahrung, diese Untrennbarkeit einer bestimmten Art zu sein von der Art, wie die Welt uns erscheint, sagt uns, dass jeder Akt des Erkennens eine Welt hervorbringt.“

Raum entsteht erst in und mit der Wahrnehmung. Das ist wichtig, hier festzuhalten. Wahrnehmen und Erkennen sind primär keine Datenprozesse. Vielmehr transformieren und erweitern wir unsere gesamte existentielle Struktur. Deshalb kann gesagt werden: „Was immer wir in irgendeinem Bereich tun, sei es etwas Konkretes wie das Gehen oder etwas Abstraktes wie philosophische Reflexion, bezieht unseren gesamten Körper mit ein.“  Die Wahrnehmungstheorien haben sich verengt. Hören, Sehen etc. sind Verengungen gegenüber einem Wahrnehmen mit der ganzen Existenz. Eine primäre Wahrnehmung ist mit „Haut und Haar“ und ist eine „engagierte Erkenntnis“ , wie Sartre sagt, durch die ich mache, dass sich mir die Welt enthüllt.

In der Wahrnehmung beeinflussen wir immer die gesamte Wirklichkeitsverfassung. Wahrnehmung ist eine Totaltransformation. Je nach Haltung, Herangehensweise öffnet sich und teilt sich eine Umgebung anders auf. Sie wird dadurch unterschiedlich wahrgenommen. Je nachdem, ob wir Wünsche und Vorstellungen projizieren, ob wir nach Vorteilen, Nutzen, Chancen Ausschau halten, ob wir nur Bestätigung suchen oder uns Ausliefern, ändert sich alles. Wir können verschiedene Haltungen einnehmen und ändern damit unseren Raum. Wahrnehmung ist ein aktives Hervorbringen von Welt. Wir erzeugen damit Wirklichkeit. Deshalb gilt der Kernsatz: „Erkennen hat es nicht mit Objekten zu tun, denn Erkenntnis ist effektives Handeln; und indem wir erkennen, wie wir erkennen, bringen wir uns selbst hervor.“  

Der selbstähnliche Raum: Vogel, Kirsche, Geliebte

Raum hängt sowohl an einer Sinnkonstruktion wie an konkreten Elementen. Dabei hat jedes Element eine räumliche Wirkung. Aber da es sich bei den Elementen nie um homogene Teile handelt, wie das eine Systemtheorie vom Typ Luhmann suggeriert, können die Teile auch nicht einfach miteinander kommunizieren. Ein Haus, ein Vogel, Kirschen, eine Geliebte und mathematische Formeln lassen sich im gelebten Raum nicht digitalisieren und auf einer gemeinsamen Ebene miteinander verbinden. Dennoch ist ein Zusammenspiel möglich. Wenn die Elemente eine Situation bilden, stehen sie miteinander in Beziehung, überlagern sich, durchdringen sich und kommunizieren miteinander. Aber eben nicht über einen gemeinsamen Raum und auch nicht in einer gemeinsamen Sprache, sondern homolog oder, wie die Chaostheorie das nennt, in fraktal-holographischer Selbstähnlichkeit. Die Elemente gehören zwar verschiedenen Bereichen an und entfalten ihre eigene Art des Räumlichen, dennoch ist eine Wechselwirkung da, entstehen immer wieder Verbindungen, Spannungen, Überlagerungen und Ähnlichkeiten. Die systemische Einheit einer Situation ist fraktaler Natur, eine „Verschachtelung von Welten in Welten“, die „im Ringen begriffen“ sind. In dieser fraktalen Situation ist jeder Teil mit jedem gekoppelt und reflektiert jeden anderen Teil – wenn auch nicht ganz genau.  Der Mensch ist in diesem Wechselspiel mit drin. Von hieraus gesehen ist klar, dass das eingangs erwähnte „Wir sind schon drin“ keine homogene Einheit darstellen kann, vielmehr in Umstürzen, Umbrüchen und zeitweisen Symphonien zu begreifen ist. Ein mehr oder weniger zufälliges Produkt aus Potentialität und Aktualität.

Lebensräume sind über ein komplexes chaotisches Zugleich aufgebaut. Aber das Zusammenwirken folgt nicht dem schönen Gesetz, dass das Ganze mehr sei als die Summe der Teile, sondern es gilt umgekehrt: Die Teile sind mehr als das Ganze. Ein Vogel ist nicht ein „Teil“ des Raumes. Vielmehr umgekehrt. Raum ist ein Teil des Vogels. Das allgemeinere ist hier eine Abstraktion des Konkreten. Wir müssen hier die Theorie von den Vögeln herleiten.

Alles hat eine räumliche Dimension. Natur, Geld, Sex, Liebe, Architektur. Deshalb kann man sagen: Liebe ist „ein Element, in das du eintauchst. Eine Dimension wie Raum und Zeit“.  Der Raum der Liebe ist aber nicht der gleiche wie der Raum des Vogelgezwitschers. Unser Körper ist ein Raum, aber nicht so wie die Kleidung. Kleidung ist ein Raum, aber nicht so wie die Wohnung. Wohnung ist ein Raum, aber nicht so wie die Landschaft usw. Sie sind in ihrer Räumlichkeit „selbstähnlich“.

Mal dominiert mehr der Geschmack, mal mehr der Geruch, mal mehr die Musikalität – alles zusammen bestimmt unser Hiersein. Das Vogelkonzert um fünf Uhr morgens ist ein in sich geschlossener Raum, der den ganzen Tag beherrschen kann, weil er größer ist als alles Folgende.

Damit bestätigt die Theorie, was Vögel uns jeden Tag zeigen, dass auch Vogelgezwitscher ein Raum sein kann und ein Haus ein Vogel, eine Geliebte eine Kirsche und eine Kirsche eine Geliebte, eine Geliebte ein Vogelgezwitscher und ein Vogelgezwitscher ? Dies als ein Ganzes in unauflöslicher Spannung – nicht im Sinne einer Gleichförmigkeit, sondern einer „Selbstähnlichkeit“. Die Unterschiede sind nicht aufgehoben. Aber alles in der Wirklichkeit hat auch eine räumliche Dimension. Egal ob Stein, Musik oder Geschmack. Das ist das gemeinsame Vielfache. Deshalb kann gesagt werden: Eine Landschaft ist ein Haus. Ein Wald ist ein Haus. Ein Vogel ist ein Haus. Ein Lied ist ein Haus. Eine Mahlzeit ist ein Haus. Eine Kirsche ist ein Haus. Eine Geliebte ist ein Haus.

Fazit: Ein Lebensraum ist immer instabil, anfällig und in einem „chaotischen“ Gleichgewicht, eben lebendig. Die Struktur der Räume ist keine stabile Substanz, sondern hält sich aus einer instabilen Menge von Interaktionen. Wir können davon ausgehen, dass Raumwirkungen und also konkrete Ausdehnung und konkretes Zusammenziehen auch von Geschmack, Gerüchen, Tönen, von Farben, Pflanzen, sogar von Umgangsformen, Temperatur, Luft, Licht, Stimmung ausgehen. Dabei greift Mensch-Empfindung-Atmosphäre-Ding-Stoff-Wissen ständig ineinander. Kirschen Körper Kleidung Wohnung Haus Landschaft Kosmos Schönheit sind selbstähnlich räumlich und bewohnbar. Lebensraum entsteht somit aus einer Architektur von Welten in Welten. Aufgrund der Selbstähnlichkeit können wir unseren Lebensraum durch Sprache, Bilder, Architekturen, Ernährung bahnen und Raum gewinnen. Die sichtbare und messbare Ausdehnung von Körpern ist nicht identisch mit den durch sie erzeugten Räumen.

Das Rauschen der Bäume kann zum Wohnraum werden, die Baustelle zum Gefängnis. Deshalb können Gerüche öffnen oder verschließen. Deshalb kann die Sprache ein „Haus des Seins“ (Heidegger) werden und können Räume durch Texte erzeugt werden. Deshalb kann man auch, wie Derrida sagt, in der Schrift wohnen, bahnt das Denken einen Weg, eröffnet ein Weg eine Schrift und schreibt Architektur ein Haus.  Schrift, Weg, Architektur erzeugen Räume.

Der unsichtbare Raum: Die unsichtbare Architektur, Binnenwirklichkeit

Der Lebensraum, in dem ein Mensch wohnt, sich bewegt und orientiert ist für andere Menschen wesentlich unsichtbar. Wir sehen zwar die Leute wie sie durch die Städte laufen. Aber wir sehen nicht wie sie eingeräumt sind. Wir sehen nicht was den Menschen erschlossen und verschlossen ist, was Bedeutung hat und was nicht. Wir sehen nicht die Raumkorridore und spezifischen Engpässe, die Stellen, die Angst machen und die Stellen, die wieder weiter machen. Kurz: wir sehen nicht die Binnenräume der Menschen mit ihren persönlichen Landkarten und „wir haben keinen unmittelbaren Zugang zu der Welt eines anderen“.  Deshalb muss ein Biograph wie Klaus Harpprecht, wenn er das Leben Thomas Manns nachzeichnet, um in die „Binnenwelt der deutschen Gefährdungen“  Einblick zu bekommen, aus Manns Werk, Tagebüchern, Briefen usw. eine Lebenslandschaft konstruieren. Darin sehen wir dann Leitmotive, Beziehungen, Nähen, Horizonte, Hürden, Fluchtwege, Irrwege, Königswege usw. Dieser Binnenraum ist der eigentliche Lebensraum. Er ist der unsichtbare Körper der Menschen. Sozusagen seine „endo-physikalische“ Natur. Die „Anti-Materie“. Immateriell, akut und nicht deckungsgleich mit der sichtbaren Umwelt.

Wie Michel Foucault richtig sagt, haben uns die Phänomenologen gelehrt, „dass wir nicht in einem homogenen und leeren Raum leben, sondern in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der vielleicht auch von Phantasmen bevölkert ist. Der Raum unserer ersten Wahrnehmung, der Raum unserer Träume, der Raum unserer Leidenschaften – sie enthalten in sich gleichsam innere Qualitäten; es ist ein leichter, ätherischer, durchsichtiger Raum, oder es ist ein dunkler, steiniger, versperrter Raum; es ist ein Raum der Höhe, ein Raum der Gipfel, oder es ist im Gegenteil ein Raum der Niederung, ein Raum des Schlammes; es ist ein Raum, der fließt wie das Wasser; es ist ein Raum, der fest und gefroren ist wie der Stein oder der Kristall.“  Wer aber meint, das sind Raumqualitäten, die als Empfindungen im Menschen anzutreffen sind, irrt. Es gilt das Umgekehrte. Wir leben in den Raumqualitäten. Wie entstehen die?

Im gelebten Raum können ganze Situationen zu Mauern werden. Wir können an Gesellschaften, Städten und Kulturen abprallen. Menschen können Schlüssel sein. Texte werden Fenster. Geschichten können wärmen. Beziehungen tragen. Das ist alles nicht metaphorisch, sondern reale Wirkung eines arbeitenden unsichtbaren Raumgefüges.

Der geometrische Raum ist eine Fläche mit Türmen, Wänden und Decken, die man bequem durchquert. Im gelebten Raum brechen wir permanent irgendwo ein, geht die Fläche und Ebene, auf der wir uns bewegen, an bestimmten Stellen nach unten oder nach oben, werden wir geliftet oder gedrückt. Das hat schon Albrecht Dürer bemerkt, wenn er in seinem Abendmahl von 1523 die Männer zu Jesus’ Rechten schwer, dumpf und massig erscheinen lässt, weil sie an einer überholten Wahrheit festhalten, während die Männer zur Linken leicht, aufgerichtet und mit Leben erfüllt erscheinen, weil eine neue Form der Wahrheit in sie einzieht.

Lebensräume haben Fenster, in denen „Der Rest der Welt“ erscheint. Sie haben heiße bis kalte, brisante, empfindliche bis harte Zonen. Es bilden sich Verdichtungen, Quellen, Schächte, Schnittstellen, schwarze Löcher, Lifte usw. Es gibt Stellen, die ziehen ab wie ein Abfluss, man wird verwirbelt und weiß nicht, wo man rauskommt. Oder der Besuch trifft unsere Situation wie einen Schuss, der alles zum Abstürzen veranlasst. Ein Termin ist ein Berg. Ein Essen ein Bad. Hölderlin ist eine Leuchte. Manche sind Klötze. Der Mensch ist eher ein Affe, ein Tarzan, der sich in einem Dschungel, den er nie vollständig überblickt, bewegt, an Leitlinien, Leitplanken, Richtlinien, Markierungen entlang hangelt. Stränge laufen wie Hotlines durch die Stadt. Sie heißen SEX oder BRATWURST und reißen alles rein.

Die heute übliche Aufteilung ist Innen/Außen. Außen, das sind die Anderen, das Ausland, die Umwelt, das Chaos. Innen, das sind wir selber, das Eigene, Bekannte, die Kenntnis. Dazwischen sind Wände, die sein können wie Häute, Mauern oder Stahl. Da der gelebte Raum durch die Dinge hindurchgeht, werden scheinbar ganze Dinge ständig zerteilt. In Innenhälften und Außenresten. Durch die Dinge gehen also unsichtbare Grenzen, die der Mensch zieht je nach Kraft und Schwäche, Lust und Laune seiner Fähigkeit, sich etwas aneignen zu können, durchdringen, durchschauen, durchleben zu können oder einfach vorurteilslos annehmen zu können. Entsprechend können Dinge, Menschen, Möbel und Umwelten zu Wänden und Mauern werden, wenn wir sie ablehnen und können selbst Mauern weich und tief werden, wenn wir in ihnen etwas sehen.

Zusammenfassend: Der eigentliche Lebensraum ist unsichtbar, mit der sichtbaren Realität möglicherweise verdeckt, getäuscht oder geschützt. Jeder Mensch hat unsichtbare Landkarten im Kopf, mit denen er sich seine persönliche Orientierung herstellt. Wir können Menschen, Kulturen, Zusammenhänge nur verstehen, wenn wir in die „Spiegel-Welt“ hineinkommen.

Der virulente Raum: Simultanität gegen Warteschlange

Man kann sich den Unterschied zwischen geometrisch-quantitativem und virulent-bewegtem Raum so klar machen: Die Kunden eines Supermarktes fädeln sich an den Kassen in die Warteschlangen ein. Kunde A, für den das Sichtbare, Quantitative zählt, stellt sich in die Reihe, wo am wenigsten Leute stehen und fällt immer wieder darauf herein, dass es dann doch so lange dauert. Kunde B fädelt sich dort ein, wo die Virulenz, das ist in diesem Fall der Durchfluss, am größten ist. Auch wenn mehr Leute anstehen. Um das wahrzunehmen, muss man das Geschehen simultan sehen können. Das bedeutet, man muss selbst in das Geschehen involviert sein und das mitleben. Die Handlungen der anderen Menschen mitvollziehen. Nicht beobachtend davor stehen bleiben. Und wir müssen lernen, uns innerlich zu befreien, nicht haften zu bleiben, nicht ständig an etwas zu „kleben“. Wir müssen lernen, „chaotisch“ wahrzunehmen. Nur dadurch können wir Durchfluss, Lebendigkeit, Leben und Möglichkeiten wahrnehmen. Wer Ordnung sucht oder Gesetze ist draußen und bleibt auf einer weniger lebendigen Stufe des Lebens stehen.

In der Virulenz steckt ein Potential. Das ist unsere eigene Lebendigkeit und sozusagen unsere Zukunft.

Der ambulante Raum: summen, trällern, Radio hören, ...........

Eigene kleine Räume entstehen bereits, wenn wir Melodien vor uns hin summen. Mit Summen, Trällern, Pfeifen erzeugen wir uns intime Wohnräume mit ersten Innen- und Außenqualitäten. Aber das Außen des Summens ist noch nicht sehr unterschieden von seiner Entstehung im Innern und wir können es jederzeit wieder zurücknehmen oder verstärken, es vielleicht in ein Trällern überführen, so dass das Außen lauter wird gegenüber dem Innen. Morgens im Bad z. B., wenn „die Welt“ eben noch nicht „in Ordnung“ ist. Später kommt dann vielleicht das Radio in der Küche, wodurch man seinen Raum noch mehr erweitert und damit schon mehr zulassen kann. Das Radio aber ist Membran in einer noch geschlossenen schlafenden Wand, wodurch aber das Draußen der Welt der Anderen schon gefiltert, durch Deutschlandfunk etc., hereinkommen kann. Diese lebendigen kleinen Wohneinheiten sind im Kern immateriell, lebendig, zugleich ortgebunden und stationär und haben doch die Tendenz sich zentrifugal kosmisch auszubreiten. Diese kleinen ambulanten, selbstgeleisteten Melodien sind die eigentlichen Lebensräume. Sie sind persönlich, nicht allgemein, aber Zugänge zur vorgegebenen Wirklichkeit. Und man kann sie, auch ohne Walkman, überall mitnehmen. Sie sind konzentrisch, nicht linear. Sie holen sich wieder ein und potenzieren sich wieder, wenn sie erschöpft sind.

Unsere Lebenssituation besteht aus vielen solchen Lebensräumen zugleich. Ambulante, aktuale, scheinbar stabile und schon länger wirkende. Flüchtige, noch gar nicht sichtbar materialisierte, bis zu betonierten und abgelebten. Aber auch die scheinbar festen, stabilen Lebensräume sind ambulant und fragil. Man sieht es nur nicht immer, weil man den dazugehörigen Zeitraster, sein Haltbarkeitsdatum, nicht sieht. Und auch alle mittlerweile institutionalisierten Lebensräume wie Staat, Demokratie, Schule, Universität, Ehe und Kirche waren einmal lebendige kleine und existentielle Situationen.